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Fortsetzung: Wann ist der Beweiswert der AU erschüttert?

Früher war klar: Einen gelben Schein gibt es nur, wenn man beim Arzt vorstellig wurde. Mittlerweile ist vieles anders. Nicht nur der gelbe Schein ist Geschichte, unter bestimmten Bedingungen kann eine AU auch aufgrund einer Videosprechstunde erteilt werden.
Das ergibt sich aus §§ 4 und 5 der Arbeitsunfähigkeitsrichtlinie. Dieses Regelwerk, das Sie 👉 hier 👈 abrufen können, wird vom sog. „Gemeinsamen Bundesausschuss“ beschlossen und ist für dessen Träger verbindlich – und damit eben unter anderem auch für die Mitgliedskassen, Versicherten und Leistungserbringer. Mit dem Verhältnis von Arbeitgebern zu ihren Beschäftigten hat die Arbeitsunfähigkeitsrichtlinie also zunächst nichts zu tun.

ABER: Das Bundesarbeitsgericht hat in seinem jüngst veröffentlichen Urteil (Az. 5 AZR 335/22) klargestellt, dass bestimmte Regelungen der Arbeitsunfähigkeitsrichtlinie im Beschäftigungsverhältnis doch wichtig sein können. Denn je nach den Umständen des Einzelfalls kann bei einem Verstoß gegen die dort geregelten Vorgaben der Beweiswert einer AU erschüttert sein. Oder anders gesagt: Ist die AU nicht regelgerecht entstanden, kann die Lohnfortzahlung gefährdet sein.

Das Bundesarbeitsgericht begründet dies sehr einleuchtend und verweist auch auf die gefestigte Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu dieser Thematik. Kurz gefasst sagen die Gerichte Folgendes:

Die AU ist das wichtigste Beweismittel eines Arbeitnehmers für das Vorliegen einer Arbeitsunfähigkeit. Die in der Arbeitsunfähigkeitsrichtlinie enthaltenen Bestimmungen zur Feststellung der Arbeitsunfähigkeit aufgrund persönlicher ärztlicher Untersuchung enthalten eine Zusammenfassung allgemeiner medizinischer Erfahrungsregeln und Grundregeln zur validen Feststellung einer Arbeitsunfähigkeit und bilden den allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse ab. Deshalb können Verstöße gegen die Richtlinie den Beweiswert einer AU erschüttern.
Das Bundessozialgericht sagt sogar in ständiger Rechtsprechung, dass das sich an eine Arbeitsunfähigkeit anschließende Krankengeld nur gewährt wird, wenn eine persönliche Untersuchung durch den Arzt stattgefunden hat. Deshalb ist, so nun das Bundesarbeitsgericht, ein einheitliches Verständnis der Verbindlichkeit der AU-Richtlinien wichtig, um den regelgerechten Ablauf von Entgeltfortzahlung und Krankengeld zu gewährleisten.
Das einheitliche Verständnis über die Aussagekraft der Verbindlichkeit der AU-Richtlinien darf allerdings lt. Bundesarbeitsgericht nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in den Richtlinien Bestimmungen gibt, die für das Verhältnis von Arbeitgebern zu ihren Beschäftigten irrelevant sind (weil sie z. B. nur das Verhältnis zwischen Arzt und Krankenkasse betreffen) und es auch Unterschiede zwischen dem Krankengeldbezug und der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall gibt.

Und damit kommen wir zu den „Key-Facts“ aus §§ 4 und 5 der AU-Richtlinie, die Sie sich auch als Arbeitgeber zunutze machen können:

  • Die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit darf nur nach ärztlicher Untersuchung, unmittelbar persönlich oder im Rahmen einer Videosprechstunde ("mittelbar persönlich") erfolgen.
  • Zur Videosprechstunde gilt (als „Soll-Vorschrift“):
    ➡ Ist der Patient in der Praxis nicht persönlich bekannt: AU maximal 3 Kalendertage; ist er bekannt: bis zu 7 Kalendertage.
    ➡ Folgebescheinigung per Video nur, wenn vorheriger AU wegen derselben Krankheit unmittelbare persönliche Untersuchung vorausgegangen ist.
  • Eine Rückdatierung des Beginns der Arbeitsunfähigkeit ist nur ausnahmsweise und in der Regel nur bis zu drei Tagen zulässig.
  • Nach spätestens sieben Tagen sind Symptome durch eine Diagnose zu ersetzen (wenn dem Arbeitgeber der Diagnoseschlüssel denn mal ausnahmsweise bekannt ist).

Sie wenden jetzt sicherlich ein: Schön und gut, aber seit Einführung der elektronischen Übermittlung erkennt der Arbeitgeber doch gar nicht mehr, welcher Arzt wo eine AU festgestellt hat. Das stimmt. Und mehr noch: In aller Regel werden Sie auch keine Möglichkeit haben, die Herausgabe dieser Informationen zu erzwingen, wenn Sie Zweifel am Bestand der AU haben. ABER: Übermittelt der Arbeitnehmer eine (Papier-) AU an den Arbeitgeber, aus der diese Informationen ersichtlich sind, oder gibt er sie auf anderem Weg preis, kann der Arbeitgeber sie zur Erschütterung des Beweiswerts heranziehen.
 
Auch wenn die elektronische Übermittlung die Papier-AU bei gesetzlich Versicherten abgelöst hat: Werfen Sie die Papierexemplare, die Sie mitunter trotzdem bekommen, nicht achtlos weg und sichern Sie ggf. auch Fotos von AU, die Ihnen von Beschäftigten geschickt werden.
 
Kommt es zum Streit, können sich daraus wichtige Hinweise ergeben.
 
Damit ergeben sich wieder neue Möglichkeiten für Arbeitgeber, die Arbeitsunfähigkeit in bestimmten Fällen in Zweifel zu ziehen.
 
Über die Erschütterung des Beweiswerts von AU durch Krankmeldungen im Zusammenhang mit Kündigungen hatten wir zuletzt in unserem Newsletter vom 24.10.2023 berichtet. Zu diesem Thema gibt es auch wieder aktuelle Entscheidungen, sodass wir unsere tabellarische Übersicht zum Newsletter vom 24.10.2023 jetzt kontinuierlich für Sie fortschreiben werden.

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