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Kehrtwende oder nicht?
EuGH-Entscheidung zu Fehlern bei der Massenentlassungsanzeige

Arbeitgeber, die mehr als 20 Personen beschäftigen und sich von sechs (oder mehr) Beschäftigten trennen wollen, sind verpflichtet sich mit dem zuständigen Betriebsrat zu beraten (sog. Konsultationsverfahren) und die beabsichtigten Entlassungen der Arbeitsagentur anzuzeigen; und zwar bevor sie „Nägel mit Köpfen“ machen, also bevor sie Kündigungen aussprechen und/oder Aufhebungsvereinbarungen schließen.

Das folgt sich aus der europäischen Massenentlassungsrichtlinie (Richtlinie 98/59/EG), die vom deutschen Gesetzgeber in § 17 des Kündigungsschutzgesetzes (KSchG) umgesetzt worden ist.
Für größere Unternehmen gelten andere Schwellenwerte, aber dieselben Prinzipien.
 
Diese Massenentlassungsanzeige und das vorgelagerte Konsultationsverfahren mit dem Betriebsrat sind aber mehr als nur eine lästige Pflicht. Denn nach deutschem Recht können auch kleine Fehler die Unwirksamkeit aller Kündigungen zu Folge haben; und zwar unabhängig davon, ob die Kündigungen im Übrigen rechtmäßig gewesen wären.
 
Das ergibt sich allerdings weder aus dem deutschen Gesetz noch aus der europäischen Massenentlassungsrichtlinie (dort ist von einer Unwirksamkeit der Kündigungen keine Rede), sondern aus der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG).
 
Das BAG begründet das damit, dass die Vorgaben von § 17 KSchG dem individuellen Arbeitnehmerschutz dienen und daher Verbotsgesetze im Sinne des § 134 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) sind. Ein Rechtsgeschäft, das gegen ein gesetzliches Verbot verstößt, ist aber nichtig; das gilt grundsätzlich auch für Kündigungen.
 
Als arbeitnehmerschützend definiert das BAG die Vorschriften des § 17 KSchG aber schon deshalb, weil sie die Agentur für Arbeit in die Lage versetzen, rechtzeitig Maßnahmen zur Vermeidung von Belastungen des Arbeitsmarkts einzuleiten und für anderweitige Beschäftigung der betroffenen Arbeitnehmer zu sorgen.
Diese Definition ist so schwammig, dass man darunter letztlich alle in § 17 KSchG genannten Mussvorschriften fassen könnte; das gilt für die Details des Konsultationsverfahrens ebenso wie für die Anzeige bei der Arbeitsagentur selbst.
 
Bislang musste man also damit rechnen, dass sämtliche Fehler oder Ungenauigkeiten Auswirkungen auf die Wirksamkeit der Kündigungen haben können.
 
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat nun aber eine Entscheidung getroffen, die einen Wendepunkt in der Rechtsprechung des BAG markieren könnte:
 
Konkret geht es in dem Fall, den das BAG dem EuGH vorgelegt hat, nur um einen einzelnen (sehr speziellen) Aspekt, nämlich die Information an die Arbeitsagentur über die Beteiligung des Betriebsrats.
Der Arbeitgeber muss den Betriebsrat im Rahmen des Konsultationsverfahrens sehr umfassend über die geplante Maßnahme unterrichten und diese mit ihm beraten. Der Arbeitsagentur wiederum ist eine Abschrift dieser Unterrichtung zuzuleiten. Das Bundesarbeitsgericht hatte zu entscheiden, welche Folge es hat, wenn das nicht passiert, diese Abschrift also nicht an die Arbeitsagentur übermittelt wird.
Da sich das BAG in diesem Fall unsicher war, ob es sich um eine arbeitnehmerschützende Norm handelt oder nicht, hat es dem EuGH diese Frage zur Entscheidung vorgelegt.
 
Der EuGH hat daraufhin entschieden, dass die Verpflichtung des Arbeitgebers, der zuständigen Behörde eine Abschrift seiner Mitteilung an den Betriebsrat zu übermitteln, nicht den Zweck hat, den von Massenentlassungen betroffenen Arbeitnehmern Individualschutz zu gewähren (EuGH, Urteil vom 13.07.2023, Az.: C-134/22).
Damit können Verstöße gegen diese Pflicht nach deutschen Recht nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung führen.

So kurz, so klar.
 
Im Gegensatz zu dem Generalanwalt, der in seinem Schlussantrag vielfach so verstanden worden war, dass die Massenentlassungsrichtlinie insgesamt keinen Individualschutz vermittelt, hat sich der EuGH aber auf die Beantwortung der Vorlagefrage beschränkt, in der es nur um diesen kleinen Teilbereich ging.
 
Die Frage, ob die Richtlinie als solche Individualschutz vermittelt und Verstöße dementsprechend zur Unwirksamkeit der Kündigung führen, oder ob das BAG seine Rechtsprechung ändern muss, ist damit unklar.
 
Das ist vor allem deshalb ärgerlich, weil das BAG selbst nach dem Schlussantrag des Generalanwalts im März 2023 Zweifel an seiner Rechtsprechung angedeutet hat.
Das BAG hat sogar ein anderes Verfahren, bei dem es um mehr als diesen Teilbereich ging, ausgesetzt und das damit begründet, dass „das vom Bundesarbeitsgericht entwickelte Sanktionssystem […] möglicherweise nicht im Einklang mit der Systematik des Massenentlassungsschutzes, wie er durch die Massenentlassungsrichtlinie (MERL) vermittelt wird, [steht] und […] darum unverhältnismäßig sein [könnte]“.
 
Die aktuelle Entscheidung des EuGH ist daher erstmal nur ein kleiner Schritt.

Wie weit sich die Rechtsprechung des BAG zu den Folgen von Fehlern bei Massenentlassungen dank dem EuGH ändern wird, ist abzuwarten.
Es bleibt spannend!

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