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BAG: Das Arbeitszeiterfassungs-Urteil ist da!

Das gerne als „Paukenschlag aus Erfurt“ betitelte Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 13.09.2022 (Az.: 1 ABR 22/21) liegt nun auch mit Begründung vor.
 
Wie schon erwartet, hat das Urteil Folgen für die Arbeitgeber, die noch keine Arbeitszeiterfassung haben.
Die wesentlichen Feststellungen des Bundesarbeitsgerichts möchten wir daher gerne für Sie zusammenfassen:

  • Nach der Veröffentlichung der Pressemitteilung hat sich die Fachwelt ja verwundert die Augen gerieben, dass das Bundesarbeitsgericht eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung aus § 3 Absatz 2 Nr. 1 des Arbeitsschutzgesetzes ableitet.
    Hier die Erklärung der Erfurter Bundesarbeitsrichter:

    Eine Verpflichtung aus einer unmittelbaren Anwendung europäischen Rechts (konkret aus Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union [GRC]) gibt es nicht, da diese Bestimmung keine Direktwirkung hat.

    Eine europarechtskonforme Auslegung der Bestimmungen des deutschen Arbeitszeitgesetzes (insbesondere von § 16 Absatz 2 Satz 1 des Arbeitszeitgesetzes) lehnen die Erfurter Bundesarbeitsrichter ebenfalls ab. Unter anderem deshalb, weil der Wortlaut von § 16 Absatz 2 Satz 1 des Arbeitszeitgesetzes eindeutig etwas anderes sagt (nämlich, dass nur die über 8 Stunden pro Tag hinausgehenden Arbeitszeiten aufzuzeichnen sind).

    Eine analoge Anwendung von § 16 Absatz 2 Satz 1 des Arbeitszeitgesetzes kommt mangels planwidriger Regelungslücke des Gesetzesgebers ebenfalls nicht in Betracht.

  • Die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung folgt aber aus einer europarechtskonformen Auslegung von § 3 Absatz 2 Nr. 1 des Arbeitsschutzgesetzes. Danach sind Arbeitgeber verpflichtet, ein System zur Erfassung der von ihren Beschäftigten geleisteten täglichen Arbeitszeit einzuführen, das Beginn und Ende und damit die Dauer der Arbeitszeiten einschließlich der Überstunden erfasst.
    Daraus folgt laut Bundesarbeitsgericht für alle Arbeitgeber eine gesetzliche Handlungspflicht.

  • Anders als nach der Pressemitteilung von Einigen vermutet wurde, muss das Erfassungssystem nicht nur eingerichtet werden, es muss auch genutzt werden.

  • Solange der Gesetzgeber keine konkreten Regelungen über
    a) die Form des Erfassungssystems und
    b) deren Umsetzung getroffen hat, haben Arbeitgeber insoweit einen Spielraum.

    Hierbei müssen Arbeitgeber – so das Bundesarbeitsgericht wörtlich – „vor allem die Besonderheiten der jeweils betroffenen Tätigkeitsbereiche der Arbeitnehmer und die Eigenheiten des Unternehmens – insbesondere seine Größe – berücksichtigen." Deshalb "muss die Arbeitszeiterfassung nicht ausnahmslos und zwingend elektronisch erfolgen. Vielmehr können beispielsweise – je nach Tätigkeit und Unternehmen – Aufzeichnungen in Papierform genügen.

    Zudem ist es," – so das BAG weiter – "auch wenn die Einrichtung und das Vorhalten eines solchen Systems dem Arbeitgeber obliegt, nach den unionsrechtlichen Maßgaben nicht ausgeschlossen, die Aufzeichnung der betreffenden Zeiten als solche an die Arbeitnehmer zu delegieren."


  • Nach europäischem Recht können die Mitgliedsstaaten Ausnahmen von der Erfassungspflicht für bestimmte Beschäftigte vorsehen. Dies gilt insbesondere für Beschäftigte, bei denen die Dauer ihrer Arbeitszeit wegen besonderer Merkmale der ausgeübten Tätigkeit nicht bemessen und/oder vorherbestimmt ist oder von den Beschäftigten selbst bestimmt werden kann.“
    Eine „Vertrauensarbeitszeit“, bei der nur die Aufzeichnungspflicht entfällt, die Dauer der zu leistenden Arbeitszeit aber festgelegt ist, reicht hiernach nicht.
    Nach aktuellem Arbeitszeitrecht gibt es solche Ausnahmen bisher nur in § 18 bis 21 des Arbeitszeitgesetzes. Ob diese Ausnahmen europarechtskonform sind, hat das Bundesarbeitsgericht dahinstehen lassen, weil es im entschiedenen Fall darauf nicht ankam.
    Offen lässt das Bundesarbeitsgericht damit auch, ob die Herausnahme von leitenden Angestellten nach § 18 des aktuellen Arbeitszeitgesetzes in Ordnung ist.

  • Zu den Mitbestimmungsrechten des Betriebsrats, die ja der eigentliche Anlass für das Verfahren beim Bundesarbeitsgericht waren, sagt das Bundesarbeitsgericht:

    Beim „Ob“ hat sich das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bereits dadurch erledigt, dass Arbeitgeber schon von Gesetzes wegen, nämlich aufgrund von § 3 Absatz 2 Nr. 1 des Arbeitsschutzgesetzes verpflichtet sind, ein Arbeitszeiterfassungssystem einzurichten.

    Bezogen auf das „Wie“ des Systems kann der Betriebsrat aber mitbestimmen.

Fazit:
Arbeitgeber, die noch keine Arbeitszeiterfassung praktizieren, müssen sich jetzt also sputen.

Da der deutsche Gesetzgeber noch nicht aktiv geworden ist, haben Arbeitgeber zwar noch die auch vom Bundesarbeitsgericht zitierten Spielräume bei der „Form“ der Arbeitszeiterfassung.

Wenn Arbeitgeber auf Nummer sicher gehen möchten, empfiehlt sich aber jetzt schon ein System, dass die Arbeitszeiten objektiv verlässlich und manipulationssicher aufzeichnet.
Gleichzeitig ist das Urteil ein Leitfaden für den Gesetzgeber, der hoffentlich bald aktiv wird und konkrete Regelungen verabschiedet, die den Arbeitgebern auch in folgenden Punkten Rechtssicherheit geben:

  • Wie muss das System aussehen?
  • Wie ist es mit einer Delegation auf die Beschäftigten?
  • Und welche Ausnahmen (leitende Angestellten, Vertrauensarbeitszeit u. ä.) soll es geben?
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