Skip to main content

BAG bestätigt: Keine Kenntnis von der Schwerbehinderung = keine Initiativlast beim Zusatzurlaub nach § 208 Absatz 1 SGB IX

In unserem Newsletter vom 01.04.2021 hatten wir von dem Urteil des Landesarbeitsgerichts Rheinland-Pfalz vom 14.01.2021 berichtet, in dem entschieden wurde:
 
Haben schwerbehinderte Arbeitnehmer:innen ihre Schwerbehinderung verschwiegen, verfällt der Zusatzurlaub nach den hierfür geltenden Regeln, obwohl der Arbeitgeber seine Initiativlast bezogen auf den Zusatzurlaub nicht erfüllt hat.

Das Bundesarbeitsgericht hat diese Entscheidung in seinem gerade veröffentlichten Urteil vom 30.11.2021 (Az.: 9 AZR 143/21) nun bestätigt und dazu folgende weitere Feststellungen getroffen: 

  • Der Zusatzurlaub für Schwerbehinderte unterliegt den gleichen Regeln und Einschränkungen wie der gesetzliche Mindesturlaub.
    Das war keine rechtliche Selbstverständlichkeit. Denn die vielen Einschränkungen, die uns der Europäische Gerichtshof in den letzten Jahren beschert hat, gelten eigentlich nur für den gesetzlichen Mindesturlaub von vier Wochen und nicht einen darüber hinaus gehenden Urlaub. 

  • Die neue Initiativlast des Arbeitgebers gilt grundsätzlich auch für den Zusatzurlaub, den schwerbehinderte Menschen nach § 208 Absatz 1 SGB IX haben. 

  • Eine Ausnahme von diesem Grundsatz gibt es allerdings dann, wenn es dem Arbeitgeber unmöglich war, die / den Beschäftigte/n durch eine entsprechende Aufforderung in die Lage zu versetzen, den Zusatzurlaub zu realisieren. Und ein solcher Fall liegt auch dann vor, wenn der Arbeitgeber von der Schwerbehinderung nichts wusste und diese auch nicht offenkundig war. 

  • Wichtig ist auch die Feststellung des Bundesarbeitsgerichts, dass Arbeitgeber nicht verpflichtet sind, ihre Beschäftigten vorsorglich (d. h. für den Fall einer Schwerbehinderung) auf einen eventuellen Zusatzurlaub hinzuweisen und sie aufzufordern, diesen, wenn er denn besteht, in Anspruch zu nehmen. 

  • Wichtig ist außerdem, dass Arbeitgeber laut Bundesarbeitsgericht keine Pflicht haben, ihre Beschäftigten wegen eines eventuellen Zusatzurlaubs nach einer Schwerbehinderung zu befragen. Aus dem Fragerecht der Arbeitgeber, das sie nach der Rechtsprechung nach 6-monatigem Bestand des Arbeitsverhältnisses haben, folgt in Bezug auf den Zusatzurlaub also keine Fragepflicht.

    Der Fall des Zusatzurlaubs für Schwerbehinderte wird also anders behandelt als der Fall, dass Arbeitgeber Maßnahmen ergreifen möchten, die den Bestand des Arbeitsverhältnisses betreffen. Hierüber hatten wir in unserem Newsletter vom 12.04.2022 berichtet.

Zur Darlegungs- und Beweislast hat sich das Bundesarbeitsgericht in diesem Urteil ebenfalls geäußert, und zwar folgendermaßen: 

  • Zwar muss grundsätzlich der Arbeitgeber darlegen und beweisen, dass er seine Initiativlast erfüllt hat. 

  • Beruft der Arbeitgeber sich darauf, dass er die Schwerbehinderung nicht kannte, ist es aber zunächst Sache der Arbeitnehmer:innen, „unter Benennung der ihnen zur Verfügung stehenden Beweismittel konkret vorzutragen, auf welche Weise sie den Arbeitgeber in Kenntnis gesetzt haben, oder Umstände zu benennen, aus denen auf die Kenntnis des Arbeitgebers geschlossen werden kann.“ 

  • Haben die betroffenen Arbeitnehmer:innen diesen Vortrag geleistet, ist wieder der Arbeitgeber am Zug. Jetzt muss der Arbeitgeber zum Vortrag des Arbeitnehmers seinerseits konkret Stellung beziehen und die für das Gegenteil sprechenden Tatsachen und Umstände benennen sowie entsprechende Beweise anbieten. Hat der Arbeitgeber keine eigenen Kenntnisse über die von den Arbeitnehmer:innen behaupteten Tatsachen, reicht es, wenn er Anhaltspunkte dafür vorträgt, dass die Behauptungen der Arbeitnehmer:innen falsch sind und sich hierbei auf die von den Arbeitnehmer:innen ins Feld geführten Beweismittel stützt.

Da man bei so viel neuer Urlaubsrechtsprechung leicht den Überblick verlieren kann, haben wir zu diesem Thema einen Video-Kurzworkshop konzipiert, der am 09.06.2022 stattfindet.

Die Programmübersicht finden Sie hier. Über den Link haben Sie auch die Möglichkeit, sich zu dem Workshop anzumelden.

  • Erstellt am .