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Bundesarbeitsgericht aktuell:
Tarifgebundene Arbeitgeber haben es schwer,
wenn sie Reisezeiten nicht vergüten möchten!

In dem gerade im Volltext veröffentlichten Urteil vom 18.03.2020 (Az.: 5 AZR 36/19) hat das Bundesarbeitsgericht entschieden: 

Sieht ein Tarifvertrag abschließende Regelungen über die Behandlung von Arbeitszeiten vor, dürfen tarifgebundene Arbeitgeber hiervon nicht durch Betriebsvereinbarung abweichen. 

Das ist deshalb eine schlechte Nachricht für Arbeitgeber, weil die Vorinstanz, das Landesarbeitsgericht Düsseldorf, die Rechtslage mit Urteil vom 14.08.2018 (Az.: 10 Sa 193/18) noch anders beurteilt hatte. 
Die Düsseldorfer Landesarbeitsrichter waren nämlich noch der Meinung: Auch tarifgebundene Arbeitgeber können per Betriebsvereinbarung regeln, dass bestimmte "Aktivitäten" (im entschiedenen Fall ging es um die Anfahrtszeiten zum ersten Kunden und die Abfahrtszeiten vom letzten Kunden) keine Arbeitszeit sind. In einem solchen Fall läge kein Verstoß gegen den Tarifvertrag bzw. die in § 77 Absatz 3 des Betriebsverfassungsgesetzes verankerte sogenannte Tarifsperre vor. 

Die dadurch geschürte Hoffnung tarifgebundener Arbeitgeber, sie könnten die Vergütung von Reisezeiten durch eine kluge Betriebsvereinbarung mit ihrem Betriebsrat eindämmen, hat das Bundesarbeitsgericht nun zunichte gemacht. 

Wir möchten diese Entscheidung gerne zum Anlass nehmen, noch einmal etwas grundsätzlicher zu den Themen Vergütung von Reisezeiten und Tarifsperre Stellung zu nehmen. 



1. Vergütung von Reisezeiten

Bei der Vergütung von Reisezeiten hat das Bundesarbeitsgericht mit zwei Entscheidungen aus dem Jahr 2018 einen Schlusspunkt gesetzt und hierbei die Vergütungspflicht zulasten der Arbeitgeber verschärft. Hier alle wichtigen Feststellungen des Bundesarbeitsgerichts im Überblick:
 
a)
Zunächst hat das Bundesarbeitsgericht per Grundsatzurteil vom 17.10.2018 (Az.: 5 AZR 553/17) entschieden, dass bei einer Dienstreise nicht nur die tatsächliche Arbeitsleistung an der auswärtigen Arbeitsstätte, sondern auch die Reisezeiten „jedenfalls dann Arbeit im vergütungsrechtlichen Sinn [sind], wenn sie ausschließlich im Interesse des Arbeitgebers erfolgen und in untrennbarem Zusammenhang mit der arbeitsvertraglich geschuldeten Arbeitsleistung stehen“.
 
Der Entscheidung des BAG lassen sich folgende Kernaussagen für die Vergütungspflicht von Reisezeiten des Arbeitnehmers entnehmen: 

  • Wenn Arbeitnehmer die vereinbarte Tätigkeit außerhalb der Betriebsstätte erbringen müssen, sind Fahrzeiten vergütungspflichtige Arbeitszeit. Das Reisen ist dann als Teil der Hauptleistungspflicht des Arbeitnehmers anzusehen und konsequenterweise auch wie die vertraglich versprochene Arbeitsleistung zu vergüten. Dies gilt laut Bundesarbeitsgericht unabhängig davon, ob der Arbeitnehmer seine Reise von der Betriebsstätte oder von seiner Wohnung beginnt bzw. beendet. 
  • Bei Vertriebsmitarbeitern, Kundendienstmonteuren, Arbeitnehmern, die auf fremden Baustellen arbeiten o.ä., gehören die Fahrzeiten daher grundsätzlich zur vergütungspflichtigen Arbeitszeit. 
  • Dasselbe gilt laut Bundesarbeitsgericht für Reisen von Arbeitnehmern, die zur Ausübung ihrer Tätigkeit vorübergehend ins Ausland entsendet werden, wenn die Dienstreise ausschließlich im Interesse des Arbeitgebers erfolgt und in untrennbarem Zusammenhang mit der geschuldeten Arbeitsleistung steht. Damit sind Reisezeiten auch dann zu vergüten, wenn der Arbeitnehmer z. B. verpflichtet ist, die geschuldete Tätigkeit vorübergehend an einem anderen Standort des Unternehmens zu leisten. Da es kaum Dienstreisen geben wird, die nicht im ausschließlichen Interesse des Arbeitgebers liegen und nicht in untrennbarem Zusammenhang mit der geschuldeten Tätigkeit stehen, wird die Luft für nicht vergütungspflichtige Dienstreisen dünn. 

b)
In dem weiteren Urteil des Bundsearbeitsgerichts vom 15.11.2018 (Az.: 6 AZR 294/17) ging es um die Vergütungspflicht von Reisezeiten im Zusammenhang mit einer Fortbildungsveranstaltung. Hier entschied das Bundesarbeitsgericht, dass Reisezeiten im Zusammenhang mit einer Fortbildungsveranstaltung dann Arbeitszeit im vergütungsrechtlichen Sinne sind, wenn die Veranstaltung dem Erhalt bzw. dem Neuerwerb von Wissen dient, das der Arbeitnehmer für seine arbeitsvertraglich geschuldete Tätigkeit benötigt.
Regelmäßig dürften Fortbildungsveranstaltungen daher Dienstreisen und die damit zusammenhängenden An- und Abreisezeiten vergütungspflichtige Arbeitszeit sein.

c)
Liegen diese Voraussetzungen vor, gehören zur vergütungspflichtigen Reisezeit auch die mit der Beförderung zwingend einhergehenden weiteren Zeiten, wie z. B. die Fahrt zum / vom Flughafen sowie Zeiten für das Einchecken und die Gepäckausgabe. Nicht dazu gehört die für rein eigennützige Tätigkeiten aufgewendete Zeit (z. B. für das Kofferpacken).

d)
Wichtig ist außerdem folgende Aussage des Bundesarbeitsgerichts: Gerade bei längeren Reisen ist der Arbeitnehmer aufgrund seiner Rücksichtnahmepflicht im Hinblick auf die Reisezeiten verpflichtet, das kostengünstigste Verkehrsmittel bzw. den kostengünstigsten Reiseverlauf zu wählen.
Oder mit anderen Worten: Nur die erforderlichen Reisezeiten hat der Arbeitgeber zu vergüten. Entsteht durch die Reiseplanung des Arbeitnehmers ein zusätzlicher Zeitaufwand, muss dieser nicht vergütet werden, es sei denn, der Umweg ist aufgrund besonderer Umstände gerechtfertigt (z. B. weil ein Direktflug nicht zur Verfügung stand oder erheblich teurer war als ein Flug mit Zwischenstopp).
 
Hat der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer allerdings Reisemittel und Reiseverlauf vorgegeben, dann ist die vom Arbeitnehmer für die Erreichung des Ziels auf diesem Wege benötigte Reisezeit als erforderlich anzusehen.
 
e)
Wenn Ihr Unternehmen einen Betriebsrat hat, hat dieser bei der Vergütung oder Nicht-Vergütung von Reisezeiten gemäß § 87 Absatz 1 Nr. 10 des Betriebsverfassungsgesetzes ein Mitbestimmungsrecht. Beim Abschluss einer dementsprechenden Betriebsvereinbarung müssen Sie allerdings immer die Tarifsperre im Auge behalten.
Was die Tarifsperre bedeutet, erklären wir Ihnen in Ziffer 2.

f)
Was jetzt kommt, ist besonders wichtig: In Arbeits- und Tarifverträgen kann von dem Grundsatz der vergütungspflichtigen Arbeitszeit abgewichen werden. Laut Bundesarbeitsgericht kann die Vergütungspflicht für solche Reisezeiten in Arbeits- und Tarifverträgen sogar ganz ausgeschlossen werden, sofern der Mindestlohn unter Einbeziehung der Reisezeiten gewahrt bleibt und der Arbeitnehmer das vereinbarte Gehalt für die vereinbarte Arbeitszeit bekommt. Diese Aussage ist deshalb so wichtig, weil bisher nicht klar war, ob insbesondere in Arbeitsverträgen auch ein "Komplettausschluss" der Vergütungspflicht von solchen Reisezeiten möglich ist. Klar war lediglich, dass ein teilweiser Ausschluss der Vergütungspflicht möglich ist.
 
Aber: Ist das Reisen Hauptleistungspflicht des Arbeitnehmers, wie dies insbesondere bei Außendienstmitarbeitern o. ä. der Fall ist, können Sie die Vergütungspflicht nicht vertraglich ausschließen.
Vertraglich abbedingen können Sie die Vergütungspflicht von Reisezeiten also nur, wenn das Reisen mit dem Auto oder anderen Beförderungsmitteln keine Hauptleistungspflicht des Arbeitnehmers ist.

g)
Was Sie sonst noch wissen bzw. beachten müssen:

  • Wenn Arbeitnehmer auf der Reise arbeiten (z. B. Akten lesen, E-Mails verfassen etc.) ist das natürlich zu bezahlende Arbeitszeit. Wenn Sie die Vergütung von Reisezeiten vertraglich ausschließen möchten, sollten Sie daher außerdem regeln, dass keine Verpflichtung der Arbeitnehmer besteht, auf Dienstreisen zu arbeiten. 
  • Wenn Arbeitnehmer eine Reise mit einem Kfz unternehmen und sie das Kfz selbst lenken, ist das ebenfalls vergütungspflichtige Arbeitszeit, die Sie nicht ausschließen können. Bei Außendienstmitarbeitern, bei denen das Autofahren zur Haupttätigkeit gehört, ist das selbstverständlich. Aber auch wenn das Autofahren keine Haupttätigkeit ist, müssen Sie davon ausgehen, dass die Lenkzeiten voll vergütungspflichtige Arbeitszeit sind. Diesen Aspekt sollten Sie bei Ihrer „Dienstwagenpolitik“ und bei der Frage, ob Dienstwagen berechtigte Arbeitnehmer Reisen immer mit dem Auto machen sollen, berücksichtigen. 
  • Geht die Reisezeit über die geschuldete Arbeitszeit hinaus, entsteht dadurch Mehrarbeit. Wenn Sie nichts anderes vereinbart haben oder wenn der Arbeitnehmer die Reise mit dem Kfz macht, das er selbst lenkt, werden Sie diese Mehrarbeit grundsätzlich wie andere Mehrarbeit auch vergüten bzw. ausgleichen müssen.
  • Wenn Reisezeiten vergütet werden müssen, heißt das noch nicht, das Reisezeiten auch Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes sind. Wenn Arbeitnehmer sich im Flugzeug oder der Bahn oder als Beifahrer im Auto erholen können, ist § 3 des Arbeitszeitgesetzes, wonach die höchstzulässige tägliche Arbeitszeit bei 10 Stunden liegt, also nicht einschlägig.

2. Die Tarifsperre

Betriebsvereinbarungen dürfen nicht gegen Tarifverträge verstoßen. Das ergibt sich aus § 77 Absatz 3 des Betriebsverfassungsgesetzes, der sogenannten Sperrwirkung von Tarifverträgen. Betriebsvereinbarungen, die gegen diese Sperrwirkung verstoßen, sind insoweit unwirksam. 
Die Sperrwirkung des Tarifvertrages setzt voraus, dass der Arbeitgeber in den Geltungsbereich des Tarifvertrages fällt und der Tarifvertrag eine dementsprechende Regelung enthält. Die Sperrwirkung erfasst tarifgebundene, unter Umständen aber auch nicht-tarifgebundene Arbeitgeber. Auf die Tarifbindung des Arbeitnehmers kommt es bei der Sperrwirkung des § 77 Absatz 3 des Betriebsverfassungsgesetzes dagegen nicht an. 

a)
Sperrwirkung bei tarifgebundenen Arbeitgebern
Ist Ihr Unternehmen tarifgebunden (auf die Tarifgebundenheit des Arbeitnehmers kommt es hier wie schon gesagt nicht an), können Sie durch Betriebsvereinbarung nur dann von der grundsätzlichen Vergütungspflicht von Reisezeiten abweichen, wenn 

  • der Tarifvertrag keine abschließende Regelung zur Behandlung von Arbeitszeiten enthält oder
  • der Tarifvertrag eine Öffnung zugunsten von Betriebsvereinbarungen zulässt.

b)
Sperrwirkung bei nicht-tarifgebundenen Arbeitgebern
Auch bei nicht-tarifgebundenen Arbeitgebern kann die Sperrwirkung des § 77 Absatz 3 des Betriebsverfassungsgesetzes greifen!

Ob sie greift, hängt davon ab: 

Gibt es für das Unternehmen überhaupt keinen einschlägigen Tarifvertrag, gibt es auch keine Tarifsperre. In diesem Fall können Sie alles mit Ihrem Betriebsrat regeln, egal ob mitbestimmungspflichtig oder nicht.

Gibt es für das nicht tarifgebundene Unternehmen einen Tarifvertrag, in dessen Geltungsbereich das Unternehmen fällt, kommt es darauf an: 

  • Ist die Regelung nach § 87 Absatz 1 des Betriebsverfassungsgesetzes zwingend mitbestimmungspflichtig, greift die Tarifsperre nicht; abweichende Regelungen mit dem Betriebsrat sind dann also möglich.
  • Fallen die Regelungen der Betriebsvereinbarung dagegen nicht unter § 87 Absatz 1 des Betriebsverfassungsgesetzes, gilt die Tarifsperre, obwohl Ihr Unternehmen nicht an den einschlägigen Tarifvertrag gebunden ist. Dann kommt es also wieder darauf an, ob der Tarifvertrag abschließende Regelungen enthält. 

c)
Und was bedeutet das alles für Betriebsvereinbarungen, die die Vergütungspflicht von Reisezeiten einschränken? 

Solche Regelungen sind zwar nach § 87 Absatz 1 Nr. 10 des Betriebsverfassungsgesetzes mitbestimmungspflichtig. 

Tarifgebundene Unternehmen können wegen der Tarifsperre trotzdem keine Betriebsvereinbarungen mit dem Betriebsrat über die Vergütungspflicht oder Nicht-Vergütungspflicht von Reisezeiten abschließen, wenn der Tarifvertrag abschließende Regelungen zur Vergütung von Arbeitszeiten enthält. Tarifverträge, die die Vergütung von Reisezeiten nicht ausdrücklich regeln, müssen daher ausgelegt werden.

Nicht-tarifgebundene Arbeitgeber können mit ihrem Betriebsrat dagegen eine Betriebsvereinbarung über die Vergütung von Reisezeiten abschließen, ohne gegen die Tarifsperre zu verstoßen.

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