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Schon schwanger oder noch nicht? Aktuelles zum Kündigungsschutz werdender Mütter

Das Bundesarbeitsgericht hat sich mit dem gerade veröffentlichten Urteil vom 24.11.2022 (2 AZR 11/22) mit dem vorgeburtlichen Kündigungsschutz des § 17 MuSchG befasst. Bekanntlich ist die Kündigung einer schwangeren Arbeitnehmerin unzulässig, wenn dem Arbeitgeber zum Zeitpunkt der Kündigung die Schwangerschaft bekannt ist oder sie ihm innerhalb von zwei Wochen nach Zugang der Kündigung mitgeteilt wird.
Die Preisfrage ist also in zahlreichen Fällen: War die Arbeitnehmerin bei Zugang der Kündigung bereits schwanger oder noch nicht? Da der tatsächliche Zeitpunkt der Empfängnis in den allerwenigsten Fällen bekannt sein dürfte – und zwar selbst der Schwangeren nicht – ist klar, dass eine generalisierende Betrachtung her muss. Dazu hat sich das BAG nun aus gegebenem Anlass verhalten und dehnt den Kündigungsschutz zeitlich sehr weit (unseres Erachtens zu weit) aus. Das möchten wir uns etwas näher ansehen und uns – wie auch die Gerichte – mit der weiblichen Biologie befassen:

Das LAG Baden-Württemberg hatte in der vorangegangenen Entscheidung (4 Sa 32/21, wir hatten darüber in unserem Newsletter vom 04.03.2022 berichtet) noch für eine „biologisch richtige“ Betrachtung plädiert und Folgendes festgehalten:
 
„Eine Schwangerschaft liegt bei einer natürlichen Schwangerschaft ab der Befruchtung der Eizelle (Konzeption) vor. Es ist - um die Sicherheit und den Schutz der schwangeren Arbeitnehmerin zu gewährleisten - vom frühestmöglichen Zeitpunkt einer Schwangerschaft auszugehen. Die Beweislast für das Vorliegen einer Schwangerschaft zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung trägt jedoch die Arbeitnehmerin. […]“
 
Sodann erläuterte das LAG die Berechnung des BAG:
„Zur Ermittlung des Beginns der Schwangerschaft wendet das BAG in ständiger Rechtsprechung folgendes Rechenmodell an. Es ist vom ärztlich festgestellten voraussichtlichen Entbindungstermin 280 Tage zurückzurechnen. Dieser Zeitraum umfasst die mittlere Schwangerschaftsdauer, die bei einem durchschnittlichen Menstruationszyklus zehn Lunarmonate zu je 28 Tagen - gerechnet vom ersten Tag der letzten Regelblutung an - beträgt. Er markiert die äußerste zeitliche Grenze, innerhalb derer bei normalem Zyklus eine Schwangerschaft vorliegen kann (BAG 26. März 2015 - 2 AZR 237/14 -; BAG 7. Mai 1998 - 2 AZR 417/97 -; BAG 12. Dezember 1985 - 2 AZR 82/85 -; BAG 27. Oktober 1983 - 2 AZR 566/82 -)."
 
Diese Berechnung, die den Kündigungsschutz ab dem ersten Tag der letzten Regelblutung einsetzen lässt, hielt das LAG (mit guter Begründung) für falsch: Der Schutzzeitraum werde überdehnt und außerdem die materiell-rechtliche Voraussetzung „Bestehen einer Schwangerschaft“ mit der prozessualen Frage des Nachweises der Schwangerschaft vermengt. Es sei nicht richtig, stets auf den ersten Tag der letzten Regelblutung abzustellen, weil tatsächlich zu diesem Zeitpunkt eine Schwangerschaft praktisch fast ausgeschlossen sei. Richtig sei es vielmehr, die Dauer der Schwangerschaft mit 266 (und nicht 280) Tagen zu berechnen und für typischerweise noch mögliche Abweichungen des Konzeptionsverlaufs eine Wahrscheinlichkeitsbandbreite von weiteren ein bis zwei Tagen zu unterstellen.
Das BAG hat dem nun eine klare Absage erteilt und hält an seiner bisherigen Rechtsprechung fest. Zur Begründung der Rückrechnung um 280 Tage führt es aus:
 
„Damit werden auch Tage einbezogen, in denen das Vorliegen einer Schwangerschaft eher unwahrscheinlich ist (BAG 26. März 2015 - 2 AZR 237/14 - Rn. 16, BAGE 151, 189). Insoweit geht es nicht um die Bestimmung des tatsächlichen - naturwissenschaftlichen - Beginns der Schwangerschaft im konkreten Fall, sondern um eine Berechnungsmethode für die Bestimmung des Kündigungsverbots wegen Schwangerschaft, der prognostische Elemente innewohnen und die am verfassungsrechtlich gebotenen Schutzauftrag orientiert ist. […] Da sich - sofern nicht ausnahmsweise der Tag der Konzeption zweifelsfrei feststeht - Fehler und Ungenauigkeiten nicht vermeiden lassen, ist es geboten, zunächst von der der Arbeitnehmerin günstigsten Berechnungsmethode auszugehen. Dabei werden zwar auch Tage einbezogen, in denen das Vorliegen einer Schwangerschaft eher unwahrscheinlich, aber eben nicht generell ausgeschlossen ist. Nur diese Betrachtungsweise erstreckt den Beginn des Kündigungsverbots auf den „frühestmöglichen Zeitpunkt des Vorliegens einer Schwangerschaft“, während die vom Berufungsgericht vertretene Auffassung, wonach die „durchschnittliche“ Dauer einer Schwangerschaft von 266 Tagen maßgeblich sein soll, in Kauf nimmt, dass Arbeitsverhältnisse von schwangeren Arbeitnehmerinnen, bei denen die Konzeption bereits zu einem vor dem 266. Tag liegenden Zeitpunkt erfolgt ist, nicht vom Kündigungsverbot erfasst würden. Das wäre mit dem von der Mutterschutzrichtlinie gewollten und nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs gebotenen umfassenden Schutz von schwangeren Arbeitnehmerinnen nicht zu vereinbaren.“
 
Konkret hieß das im entschiedenen Fall:
Der (rechnerisch) erste Tag der letzten Regelblutung der gekündigten Arbeitnehmerin war der 29.10.2020. Die Kündigung wurde ihr am 7.11.2020 zugestellt. Die Befruchtung der Eizelle fand (rechnerisch und statistisch äußert wahrscheinlich) rund um den 12.11.2020 statt; selbst mit „Sicherheitszuschlag“ von einigen Tagen also jedenfalls nach Zugang der Kündigung. „Schwanger“ im Sinne des vorgeburtlichen Kündigungsschutzes war die Arbeitnehmerin trotzdem …
Ein schwieriges Thema. Und ein Schelm, der Böses dabei denkt, wenn einige Wochen nach Zugang einer Kündigung eine Bescheinigung über das Bestehen einer Schwangerschaft eingereicht wird, deren Beginn unmittelbar vor Zugang der Kündigung liegt …
Einige Wochen? Ja richtig, auch das ist unter Umständen laut BAG möglich: Gem. § 17 Abs. 1 S. 1 MuSchG muss die Schwangerschaft innerhalb von zwei Wochen nach Zugang der Kündigung mitgeteilt werden. S. 3 regelt, dass das Überschreiten dieser Frist unschädlich ist, wenn „die Überschreitung auf einem von der Frau nicht zu vertretenden Grund beruht und die Mitteilung unverzüglich nachgeholt wird“.

Dazu sagt das BAG:
 
„Die Fristüberschreitung ist von der schwangeren Frau dann iSd. § 17 Abs. 1 Satz 2 MuSchG zu vertreten, wenn sie auf einem gröblichen Verstoß gegen das von einem ordentlichen und verständigen Menschen im eigenen Interesse zu erwartende Verhalten zurückzuführen ist („Verschulden gegen sich selbst“). Die Arbeitnehmerin versäumt die rechtzeitige Mitteilung der Schwangerschaft infolgedessen schuldhaft, wenn sie die Mitteilung innerhalb der Zweiwochenfrist unterlässt, obwohl sie die Schwangerschaft kennt, oder wenn zwar noch keine positive Kenntnis besteht, aber gleichwohl zwingende Anhaltspunkte gegeben sind, die das Vorliegen einer Schwangerschaft praktisch unabweisbar erscheinen lassen. Das Untätigsein der Arbeitnehmerin beim Vorliegen einer bloßen, mehr oder weniger vagen Schwangerschaftsvermutung reicht dagegen regelmäßig nicht aus, ihr ein schuldhaftes Verhalten - mit der Folge des Verlusts des besonderen Kündigungsschutzes – vorzuwerfen.“
 
Damit dürfte es in der Praxis für Arbeitgeber unmöglich sein, der Behauptung einer Arbeitnehmerin entgegenzutreten, sie habe erst bei einem (möglicherweise erst Wochen später erfolgten) Arztbesuch von der Schwangerschaft Kenntnis erlangt.
Und was ist dann die „unverzügliche Nachholung“? Dafür reicht es laut BAG sogar noch aus, wenn die Schwangere ihren Anwalt 6 (!) Tage nach dem vielsagenden Arztbesuch informiert und dieser mit Schriftsatz an das Arbeitsgericht die Schwangerschaft mitteilt. Selbst wenn es seitens des Anwalts (weitere) Verzögerungen geben würde, wären diese der Schwangeren nicht zuzurechnen.
So weit geht der verfassungsrechtliche Auftrag, auch der werdenden Mutter Schutz und Fürsorge der Gemeinschaft angedeihen zu lassen.
 
Dass hier Missbrauchspotential liegt, ist klar. Praktisch selten, aber natürlich durchaus vorstellbar ist z. B. folgendes Szenario:
Eine Betroffene erhält ein Kündigungsschreiben; die Familienplanung „ist im Gange“. Wenige Tage (oder Wochen) nach Zugang der Kündigung bemerkt die Betroffene, dass sie (vermutlich) schwanger ist. Sie hat auch schonmal gehört, dass man Schwangere nicht kündigen darf. Sie macht sich „schlau“ und weiß nun recht genau, was sie auf die Frage der Gynäkologin, wann denn der erste Tag der letzten Periode war, antworten kann/sollte/muss …
Ihre unter Hinweis auf das Bestehen einer Schwangerschaft verspätet (denn eigentlich gilt eine 3-Wochenfrist ab Zugang der Kündigung) erhobene Kündigungsschutzklage wird das Arbeitsgericht gem. § 5 Abs. 1 S. 2 KSchG nachträglich zulassen und der Arbeitnehmerin im Ergebnis Recht geben. Auch den Arbeitgeber wird die Schwangere unverzüglich entsprechend informieren. Der Arbeitgeber steht dann schlecht da – denn diese ursprünglich womöglich wirksame Kündigung kann er sich nun „an den Hut stecken“ …

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