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Die Gerichte stärken die Anti-Diskriminierungsrechte von insbesondere schwerbehinderten Menschen mit Folgen für Arbeitgeber

Heute möchten wir Ihnen insbesondere von Urteilen berichten, die den Schutz von schwerbehinderten und ihnen gleichgestellten Menschen schon bei Stellengesuchen weiter stärken und daher unbedingt beachtet werden sollten.

1.
Für Arbeitsplätze, die mit schwerbehinderten / gleichgestellten Menschen besetzt werden können, müssen Vermittlungsaufträge bei den hierfür zuständigen Stellen der Arbeitsagenturen ausgelöst werden! (Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 25.11.2021, Az.: 8 AZR, 313/20)


Eine Kernaussage dieses an öffentliche Arbeitgeber gerichteten Urteils, das auch für die Privatwirtschaft Signalwirkung haben dürfte, lautet:

Für Arbeitsplätze, die mit schwerbehinderten / gleichgestellten Menschen besetzt werden können, müssen Arbeitgeber einen Vermittlungsauftrag bei den bei der Agentur für Arbeit dafür eingerichteten besonderen Stellen erteilen.
Es reicht nicht, dass Stellenangebote nur über die Jobbörse der Arbeitsagenturen platziert werden.

Erfolgt kein Vermittlungsauftrag, wird vermutet, dass schwerbehinderte / gleichgestellte Bewerber wegen ihrer Schwerbehinderung benachteiligt wurden.

Diese Rechtsfolge leitet das Bundesarbeitsgericht aus § 165 SGB IX ab.
Danach sind öffentliche Arbeitgeber verpflichtet, den Arbeitsagenturen frühzeitig freie Stellen zu melden.

Private Arbeitgeber dürfen sich aber nicht zu früh freuen. Unseres Erachtens betrifft die Entscheidung auch private Arbeitgeber. Denn der für private Arbeitgeber geltende § 164 SGB IX enthält eine ähnlich lautende Pflicht, heißt es darin doch:

"Die Arbeitgeber sind verpflichtet zu prüfen, ob freie Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Menschen, insbesondere mit bei der Agentur für Arbeit arbeitslos oder arbeitssuchend gemeldeten schwerbehinderten Menschen, besetzt werden können. Sie nehmen frühzeitig Verbindung mit der Agentur für Arbeit auf. Die Bundesagentur für Arbeit oder ein Integrationsfachdienst schlägt den Arbeitgebern geeignete schwerbehinderte Menschen vor ..."

Für Stellenbesetzungsverfahren bedeutet das Folgendes:

  • Die für das Bewerbungsverfahren Verantwortlichen sollten mindestens 3 Wochen vor dem beabsichtigen Termin, zu dem die neue Stelle besetzt werden soll, Kontakt mit den hierfür bei der Agentur für Arbeit eingerichteten besonderen Stellen (vgl. § 104 Absatz 4, § 187 Absatz 4 SGB IX) aufnehmen.

  • Für die Kontaktaufnahme reicht es nicht, wenn - was oft geschieht - eine Stellenanzeige im Jobportal der Arbeitsagentur eingestellt wird. Vielmehr muss die Kontaktaufnahme so sein, dass bei den hierfür eingerichteten besonderen Stellen ein Vermittlungsauftrag ausgelöst wird.

  • Bei dem Vermittlungsauftrag muss das genaue Arbeitsplatzprofil benannt werden. Denn nur so kann von den Agenturen für Arbeit geprüft werden, ob es überhaupt geeignete schwerbehinderte / gleichgestellte Bewerber gibt.

  • Wichtig ist außerdem, dass Vermittlungsvorschläge der Arbeitsagenturen abgewartet werden, bevor das Bewerbungsverfahren beendet wird.

  • Da sich die Prüfpflicht nach § 164 SGB IX nur insbesondere auf die bei der Agentur für Arbeit arbeitslos oder arbeitssuchend gemeldeten schwerbehinderten / gleichgestellten Menschen bezieht, muss außerdem immer geprüft werden, ob der freie Arbeitsplatz mit einer bereits im Unternehmen beschäftigten schwerbehinderten / gleichgestellten Person besetzt werden kann. Diese Prüfpflicht besteht unabhängig davon, ob interne Bewerbungen schwerbehinderter / gleichgestellter Menschen vorliegen oder aber nicht.

  • Tun Arbeitgeber das nicht, haben sie wie schon gesagt ein Indiz für eine Diskriminierung gesetzt. Und solche Indizien können bekanntermaßen, wenn überhaupt, nur mit viel Mühe entkräftet werden, weil dann das gesamte Bewerbungsverfahren offen gelegt werden muss.

Arbeitgeber sollten solche Vermittlungsaufträge und das was dazu gehört daher als Pflichtprogramm in ihre Bewerbungsverfahren mit aufnehmen. Alles andere kann sie teuer zu stehen kommen.

2.
Arbeitgeber müssen die Schwerbehindertenvertretung sowie die in § 176 SGB IX genannten Vertretungen unmittelbar nach Eingang einer Bewerbung eines schwerbehinderten / gleichgestellten Menschen oder eines dementsprechenden Vermittlungsvorschlags der Agentur für Arbeit unterrichten - sonst liegt ein Indiz für eine Diskriminierung vor (Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 25.11.2021, Az.: 8 AZR 313/20 zum zweiten)


In dem in Ziffer 1. besprochenen Urteil hat das Bundesarbeitsgericht noch eine weitere, für die betriebliche Praxis wichtige Aussage getroffen:

Arbeitgeber müssen die Schwerbehindertenvertretung und die in § 176 SGB IX genannten Vertretungen über Bewerbungen schwerbehinderter / gleichgestellter Menschen sowie entsprechende Vermittlungsvorschläge der Agentur für Arbeit unmittelbar nach Eingang unterrichten; die Pflicht zur Unterrichtung entsteht mit dem Moment, in dem Arbeitgeber erkennen bzw. erkennen müssen, dass es sich um die Bewerbung eines schwerbehinderten oder gleichgestellten Menschen handelt.

Für die betriebliche Praxis bedeutet das: Arbeitgeber genügen ihren gesetzlichen Pflichten nicht, wenn sie, wie so oft, eingegangene Bewerbungen bzw. Vermittlungsvorschläge erst sammeln und später in gebündelter Form an die Schwerbehindertenvertretung und die in § 176 SGB IX genannten Vertretungen weitergeben. Das hat das Bundesarbeitsgericht ausdrücklich festgestellt.
Das Bundesarbeitsgericht hat außerdem gesagt, dass es nicht reicht, der Schwerbehindertenvertretung und den anderen Vertretungen nur Zugang zu den Bewerbungsunterlagen zu verschaffen. Erforderlich ist vielmehr eine gezielte Unterrichtung unter Hinweis auf die Schwerbehinderung / Gleichstellung der Bewerber:innen.

3.
Auch Arbeitgeber, die die besonderen Kündigungsbestimmungen von schwerbehinderten / gleichgestellten Beschäftigten nicht beachten, haben ein Indiz für eine Diskriminierung gesetzt (Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 17.05.2021, Az.: 10 Sa 49/20)


Schwerbehinderte / gleichgestellte Menschen sind nicht nur bei der Besetzung von Arbeitsplätzen, sondern bekanntlich auch bei der Beendigung eines Arbeitsverhältnisses besonders geschützt.
So muss vor Ausspruch einer Kündigung das Integrationsamt beteiligt und die Schwerbehindertenvertretung angehört werden. Wenn es sich um eine betriebsbedingte Kündigung handelt, ist eine Schwerbehinderung oder Gleichstellung außerdem ein soziales Kriterium, das bei der Sozialauswahl berücksichtigt werden muss.

Beachten Arbeitgeber diese Besonderheiten nicht, haben sie ebenfalls ein Indiz für eine Diskriminierung gesetzt. Arbeitgeber müssen daher damit rechnen, dass sie nicht nur das Kündigungsschutzverfahren verlieren, sondern auch eine Entschädigung und gegebenenfalls sogar Schadensersatz (§ 15 Absatz 2 und Absatz 1 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes) leisten müssen.

So wurde es vom Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg in seinem Urteil vom 17.05.2021 (Az.: 10 Sa 49/20) für eine Kündigung entschieden, die der Arbeitgeber ohne Beteiligung des Integrationsamtes und ohne Berücksichtigung der Schwerbehinderung bei der Sozialauswahl ausgesprochen hatte.

Die Kernaussage der Landesarbeitsrichter lautet:

Wird gegen diese Schutzmechanismen verstoßen, wird der Anschein erweckt, dass einem Arbeitgeber egal ist, wie den Bedürfnissen schwerbehinderter Menschen im bestehenden Arbeitsverhältnis Rechnung getragen werden kann. Und das darf eben nicht sein.

Aber was ist, wenn Arbeitgeber gar nicht wissen, welche Beschäftigten schwerbehindert oder gleichgestellt sind?

Unwissenheit schützt vor Strafe nicht! Anders kann man die Entscheidung aus Baden-Württemberg wohl nicht verstehen, wenn es dort heißt:

„Nimmt eine Arbeitgeberin den Sonderkündigungsschutz ernst, dann wird sie vor Ausspruch von Kündigungen prüfen, ob weitere Schritte erforderlich sind, um dem Schutz besonders bedürftiger Menschen gerecht zu werden. Dazu muss sie sämtliche Daten sammeln, die diesen Kündigungsschutz begründen können – was sie auch darf […]. Tut sie dies nicht […] so zeigt dies nur in aller Deutlichkeit, dass er der Arbeitgeberin egal ist.“

Mit anderen Worten: Möchten Arbeitgeber eine Diskriminierung mit ihren Folgen vermeiden, sollten sie vor Ausspruch einer Kündigung sorgfältig prüfen, ob der/dem Beschäftigten Sonderkündigungsschutz zugutekommt. Hierfür müssen sie gegebenenfalls von ihrem Fragerecht Gebrauch machen.

Zur Erinnerung: Nach Ablauf der ersten 6 Beschäftigungsmonate ist die Frage nach der Schwerbehinderung laut Bundesarbeitsgericht zulässig und muss von den Beschäftigten dann auch wahrheitsgemäß beantwortet werden.

Empfehlenswert ist außerdem, Arbeitnehmer:innen schon im Arbeitsvertrag zu verpflichten, eine eventuelle Schwerbehinderung / Gleichstellung nach dem 6. Beschäftigungsmonat unaufgefordert mitzuteilen.

4.
Die Festsetzung einer Entschädigung nach § 15 Absatz 2 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes auf "Null" ist unzulässig / eine Entschädigung für eine mittelbare Benachteiligung darf nicht per se niedriger ausfallen als für eine unmittelbare Benachteiligung / Beschäftigte dürfen auf Ansprüche nach dem AGG nur im Nachhinein, nicht aber im Voraus verzichten (Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 28.10.2021, Az.: 8 AZR 371/20)


In diesem Urteil hat das Bundesarbeitsgericht gleich 3 wichtige Aussagen für alle benachteiligten Arbeitnehmer:innen (also nicht nur schwerbehinderte/gleichgestellte Beschäftigte) getroffen, die wir im Folgenden für Sie auf den Punkt bringen möchten:

  • Ein Gericht darf nicht alleine deshalb von einer Entschädigung nach § 15 Absatz 2 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes ("Schmerzensgeld") absehen, weil der Arbeitgeber verurteilt wurde, die Benachteiligung als solches zu beseitigen.

    Ein Absehen von einer Entschädigung bzw. eine Festsetzung einer Entschädigung auf "Null" kommt daher nicht in Betracht.

  • Ebenso wenig darf eine Entschädigung alleine deshalb niedriger festgesetzt werden, weil es sich "nur" um eine mittelbare, nicht aber eine unmittelbare Benachteiligung handelt. Mit der im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz angelegten Unterscheidung zwischen unmittelbarer und mittelbarer Benachteiligung ist laut Bundesarbeitsgericht keine Wertung in dem Sinne verbunden, dass unmittelbare Benachteiligungen immer schwerwiegender sind als mittelbare Benachteiligungen.

  • Nach § 31 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes darf von den Vorschriften dieses Gesetzes nicht zulasten der geschützten Personen abgewichen werden. Das bedeutet laut Bundesarbeitsgericht:
    -   Ansprüche aus dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz dürfen nicht im Voraus ausgeschlossen oder beschränkt werden. Ein Ausschluss oder eine Beschränkung im Voraus ist unzulässig.
    -   Zulässig ist es dagegen, Ansprüche aus dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz im Nachhinein auszuschließen oder zu beschränken. Verzichts-, Vergleichs- und/oder Abgeltungsvereinbarungen sind also zulässig, soweit sie sich auf in der Vergangenheit liegende mögliche Benachteiligungen beziehen.
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